Wirtschaft schrumpft, Staat wächst

Der sich seinem Ende zuneigende Sommer hat Wirtschaftsinteressierten einige Klarheit über die Lage in Staat und Wirtschaft verschafft. Nun steht fest, dass das zweite Quartal dieses Jahres mit einer Wirtschaftsschrumpfung von 9,7% den schwächsten Wert seit mehr als sieben Jahrzehnten darstellt. Außerdem mussten die Optimisten von dem Glauben Abstand nehmen, es werde zu einer raschen V-förmigen Erholung der Wirtschaftsleistung kommen.

Andere europäische Länder mussten noch deutlich schlechtere Wirtschaftsdaten ausweisen. Spanien, Frankreich und Italien sehen sich nicht nur mit einer schwierigeren COVID-19-Situation konfrontiert; diese Länder hängen wesentlich stärker vom brachliegenden Tourismus ab. Allerdings muss man bei den deutschen Zahlen bedenken, dass die Bundesrepublik außerordentlich große Hilfsprogramme ins Leben gerufen hat. Ohne diese Maßnahmen wäre die heimische Wirtschaft deutlich stärker abgesackt. Ähnlich sieht es auch in den Vereinigten Staaten aus, wo die Wirtschaft im zweiten Quartal um 9,5% gegenüber dem Vorjahr schrumpfte und damit geringer als die deutsche Wirtschaft einbrach. Amerika leitete Wirtschaftsstimulierungsprogramme ungeahnten Ausmaßes ein. Die Kehrseite der außerordentlichen staatlichen Leistungen besteht in der galoppierenden Staatsverschuldung. Im Prinzip sind die Staatsfinanzen aller Länder mehr oder minder zerrüttet und nichts außer Inflation kann zu geringeren realen Schulden führen. Der Beschluss zur Auflegung gemeinsamer europäischer Anleihen (Eurobonds) wurde in vielen Hauptstädten Europas lange schon gewünscht und findet in der Pandemie seinen Katalysator. Damit nimmt die seit der Einführung des Euro gefürchtete Vergemeinschaftung europäischer Schulden nunmehr ihren unabänderlichen Lauf. Ein zu spät kommender Versuch des Bundesverfassungsgerichtes, dem unbegrenzten Gelddrucken ggf. noch Einhalt zu gebieten, wurde mit überwältigender Mehrheit im Bundestag ausgebremst und somit ad acta gelegt.

Den vielen Leidtragenden der Pandemie steht der Staat als großer Gewinner gegenüber. Als Arbeitgeber ist seine Popularität weiter gestiegen, denn die Krise hat vor allem für jüngere Menschen den Eindruck verstärkt, dass Wirtschaft riskant und Wettbewerb unangenehm sein kann, während der Staat durch sein Primat wie ein Monopolist voranschreiten kann und seine bereits vor der Pandemie üppigen Transferleistungen scheinbar nach Belieben ausweitet. Wohlstandsverteilung dominiert in Berlin seit langem über Wohlstandsschaffung. Überdies wirkt der Staat als Arbeitgeber viel sicherer als die Unternehmen der Wirtschaft. Denn die Möglichkeit der unendlichen Geldvervielfältigung bewahrt ihn weithin vor Kürzungs- und Sparzwängen. Tatsächlich ist die Menge des Umlaufenden Geldes (gemessen z.B. im Geldmengenaggregat M3) gegenüber dem Vorjahr um mehr als 10% angestiegen. Dazu hat auch der Umstand beigetragen, dass ein Halten von Papiergeld angesichts der um sich greifenden Weitergabe von Negativzinsen mittlerweile Zins-Vorteile gegenüber Bankeinlagen aufweist.

Insgesamt scheint das 21. Jahrhundert seinem turbulenten Vorgängerjahrhundert in nichts nachstehen zu wollen. Die Terroranschläge des 11. September, die große Finanzkrise 2008/09 und nun die COVID-19-Pandemie drücken dem Jahrhundert ihren Krisenstempel auf. Hinzu kommen der phänomenale Aufstieg Chinas und die schwerwiegende Disruption amerikanischer Politik durch Donald Trump.

Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wirken heute wesentlich labiler in ihrer Verankerung als dies noch zur Jahrtausendwende der Fall war. Seinerzeit hat man sich nicht vorstellen können, dass Zinsen dereinst abgeschafft würden. Treffend heißt es aber in Wilhelm Meisters Wanderjahren bei Goethe: „Wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein“. Das dürfte auch für die vor uns liegenden Jahre gelten.


Aus Chicago

Ihr

Dr. Christoph Bruns